Nora Bossong trans. Stefanie Eliron
Summer 2024 | Poetry
aus Gedichte
Kreuzzug mit Hund
from Poetry
Crusade with Dog
Section 1
Kurzes Asylum / Short Asylum
Kurzes Asyl
Spät kam sie an, die kleine Herde, verschreckte Zicklein
auf der schmalen Serpentine, fehlgelieferte Passanten,
niemand hatte sie bestellt. Die Gruppe grauer Rücken
rückte in den Garten ein, müßig rupften sie die Halme,
Halm um Halm, dann noch ein Halm, wir ahnten schon,
bald fräßen sie auch Hecken, Vorhänge und Aktenberge.
Bis ins Haus drang drög ihr Blöken. Wir vergruben uns
unter den Kissen, zorning, panisch, um den Schlaf gebracht.
Am Morgen endlich rumpelte ein neuer Lieferwagen an,
sie zockelten von dannen, unsre ungebetenen Bekannten,
man würde sie nun ihrem wahren Adressanten übergeben.
Doch Wochen später überraschte uns die Meldung:
Europa verzogen. Ziegen eingestellt.
Short Asylum
They arrived late, the little herd, frightened kid goats
on the narrow serpentine, misdelivered passers-by,
no one had ordered them. A group of gray backs
besieged the garden, they idly plucked at blades of grass,
blade after blade, then another blade, we already suspected
they would soon eat hedges, curtains, and mountains of files.
Their bleak bleating audible in the house. We buried ourselves
under pillows, angry, panicky, deprived of sleep.
In the morning a new van finally rumbled up,
they trotted away, our uninvited acquaintances,
they would now be handed over to their true addressee.
But weeks later surprising news:
Europe’s address unknown. Goat case closed.
Ach Europa,
auch nur dieses kleine, gerüttelte Wiesending, Königstochter
mit einer panischen Angst vor Stieren, wer nimmt ihr das übel
nach alldem. Kriege hatte sie wie andere Leute Erkältungen.
Eine Schürze voller Länder über die Ebene geschüttelt, Babel
an jedem Grashalm errichtet, Verwaltungschaos drapiert in
Brüsseler Spitze. Ein Panoptikum aus Irren und Ehrenbürgern,
Bagatellen und bösen Geistern. Die Sumpfdotterblume wäre
die sichere Wahl, doch irgendetwas liegt uns an ihr, Europa,
dieser verschreckten Zwergin am Ende der Welt. Wir muntern
sie auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr.
Oh Europe,
only just this little, shaken meadow thing, king's daughter
panicked fear of bulls, who blames her
after all that. She got wars like other people get colds.
An apron full of lands shaken across the plain, Babylon
erected on every blade of grass, administrative chaos draped in
Brussels lace. A panopticon of lunatics and freemen,
trifles and evil spirits. The marsh marigold would be
the safe choice, but we care about her somehow, Europe,
this frightened dwarf at the end of the world. We cheer
her up and reassure her, that things will end well for her one day.
Section 7
Okzidentien / Occident
Rom
So erscheinen unsere pneumatologischen Träume:
Pansen mit Minze, die Zunge zartgekocht,
die Kräuter legen Orient in den Geschmack.
Fliegende Händler tragen Hunde mit wedelnden
Ohren und dickliche Tänzer an unseren Tisch,
feilschen um Euros und das Verständnis
von Schönheit, schachern um unseren Verstand.
Wir kaufen Benedikt, zwei Mal aus Gips, das Ornat,
die roten Schuhe einer entzogenen Epoche.
Der Pulk auf dem Platz probt Prozessionen
und aus den Wolken fallen Möwen,
weiße Trabanten, Laub eines Spätherbsts.
Ein Straßenschild dreht uns den Rücken zu,
sein Zeichen gegen eine Hauswand gerichtet,
als fordere es das Gebäude zum Abflug auf.
Im schmalen Spalt zwischen Stein und Stele
wankt ein Mann und sucht wohl
jenes Gebot zu verstehen, das nicht von oben,
nur vom Straßenverkehrsamt kommt.
Rome
This is how our pneumatological dreams appear:
tripe with mint, the tongue cooked tender,
the herbs infuse the flavor of the orient.
Hawkers carry dogs with wagging
ears and plump dancers to our table,
haggling over euros and an understanding
of beauty, haggling over our sanity.
We buy Benedict, made over in plaster, the regalia,
the red shoes of a distant epoch.
The crowd on the plaza practices processions
and seagulls fall from the clouds,
white moons, late fall foliage.
A street sign turns its back on us
directs its label towards a house wall,
as if telling the building to take off.
In the narrow gap between stone and stele
a man staggers about and seemingly searches
to understand that commandment which is not from above,
but comes from the department of motor vehicles.
Section 8
Altes Neues Land / Old New Land
Felsen. Sankt Peter, Jaffa
Vielleicht war alles nur ein Traum, geträumt vom Dach
des Gerberhauses, ein alter Traum, der taufte, tötete und fraß.
Am Felsen lehnte windstill eine Angel, eine Dose wartete allein
auf Fang, und im Radio wurde neuer Krieg erwartet, nüchtern,
wie man Regen oder Stau voraussagt, für den Abend, nach dem Ende
des Gebets. Kinder spielten auf den Kanonen, und unter dem Durchgang
schlief ein Obdachloser, verborgen in zerrissenem Acryl. Das war
die Wand, an der Napoleon die Stadt gebrochen hatte, die Kneipe
oben flaggte Grün: Heineken. Schwankend stand der Platz im Dunst
von altem Bier, und Ewigkeit war eine Kerzenstange in Sankt Pteter,
drei Schekel, doch es stand geschrieben, der Schlitz zöge auch
Dollarnoten ein. Fast still im Innern, vier Schwarzbetuchte lauschten
in den Bänken. Verstohlen schlug ich Kreuz, und nur die sanfte
Stimme
eines jungen Mönchs erfüllte die Kapellengänge. Ha fatto la guerra –
der da hat den Krieg gemacht. Zwei Jungen staunten zu ihm auf. Iblis,
Teufel, der Gesteinigte. Lag gefesselt, starrte irr. Eine Schlange
züngelte ihn an. Hinter ihm das rote Bluten, Dschahannam, Feuer,
Höllenwolken. Denn wisst ihr, Satan glaubte sich wie Gott.
Wie man sich nur überschätzen kann. Der Erzengel war Mädchen fast,
ein Wesen, das von Zeit nichts weiß, und die beiden Jungen jagten
ungeduldig ihren Teufel aus dem Bild. Sie starrten hoch und standen
da.
Wem man so sanft vom Bösen spricht, für den gibt es ihn so lange
nicht.
Ich trat hinaus, ging durch Gassen, Synagogenlicht, sah gedeckt,
von Dämmerung einen Schatten durch die Straßen eilen. Und wer
entkommt und wer bleibt. Man glaubt so gern, was man nicht kann,
man öffnet die Jahrhunderte, sieht die Hölle an und schweigt.
Von Al-Bahr klang sehnsuchtsvoll der Ruf herauf,
und im Hafen tanzte friedlich Gischt zum Ende des Gebets.
Rock. Saint Peter, Jaffa
Maybe it was all just a dream, dreamt from the roof
of the tanner’s house, an old dream that baptized, killed, and devoured.
In the still air a fishing rod leaned on a rock, a can waited alone for catch,
and on the radio another war was expected that evening, emotionless,
like rain or traffic jams, after the end of evening prayer.
Children played on the canons and a homeless man
hidden in torn acrylic, slept in the passageway. This was
the wall where Napoleon broke the city, the pub
flew a green flag: Heineken. The square shrouded in a haze
of old beer, and eternity was a candle stick in Saint Peter,
for three shekels, but it was written that the slot also accepted
dollar notes. Almost silent inside, on the benches,
four black-veiled people listened. Furtively, I crossed myself, and only the gentle
voice
of a young monk filled the aisles of the chapel. Ha fatto la guerra -
the one that made war. Two boys marveled at him. Iblis,
devil, the stoned one. Lay chained, stared madly. A snake’s tongue
flicked at him. Behind him the red bleeding, Jahannam, fire,
clouds from hell. For do you know, Satan thought himself like God.
One can clearly overestimate oneself. The archangel looked almost girlish,
a being who knows nothing of time, and the two boys impatiently chased
the devil out of the picture. They stared up and stood
there.
To whom one speaks so softly of evil, it has not existed until
then.
I stepped outside, walked through the alleys, light from a Synagogue, saw in the
cover of dusk a shadow rushing through the streets. And who
escapes and who stays. One gladly believes what one cannot,
one opens the centuries, looks at hell and is silent.
A longing call sounded from Al-Bahr,
and in the harbor foam danced peacefully at the end of prayer.
Sand. Corniche, Tel Aviv
Persepolis war nur ein Juwelier Ben Yehuda Ecke
Frishman Street, bereits geschlossen, und nebenan
war eine Kasse ausgefallen kurz vor vier, einer
hatte noch zu zahlen vor Shabbat, seine Bewegung,
vorrück, vorrück, zählte Trauer an, und im Trockeneis
verwelkten Tulpen. Gegenüber wusch ein Junge Tische ab,
gegenüber staubte Hoffnung ein, fast Wien, Theodor Herzls
Kaffehaustrauer. Am Tresen trank ein Mann Tequilla, fünf
Gläser, verließ für immer das Lokal. Reglos tanzte eine Ballerina
auf dem Gepäckträger eines Elektrorads. Die Welt war weit
und reichte nicht bis an den Horizont, bis zu den Flecken reichte sie,
dunkle Wölbungen am Himmel, Flugzeugträger, Segelboote. Das war
kein Märchen mehr. Der Frühlingshügel stand als Wunschspur
hinter Palmenzweigen, doch einmal, als ich müde war bei Regen,
sah es aus wie starrer Rauch. Ich lag am Strand und kannte
nicht mehr meinen Namen. Vor mir leckten Wellen einen Davidstern,
daneben Fußabdrücke, ein Felsendom mit Käseglockenkuppel,
Cohen sang sein broken hallelujah. Mir schien, ich hätte
dieses Land geträumt. In diesen Sand, da ließ sich alles zeichnen:
ein neues Land, ein Paradies mit Raketenabwehrsystem,
das letzte Experiment in der Tsunami hazard zone.
Sand. Corniche, Tel Aviv
Persepolis was just a jeweler at the corner of Ben Yehuda
and Frishman Street, already closed, and next door
a register had failed just before four, someone
still had to pay before Shabbat, his movement,
forward, forward, counted grief, and tulips
on dry ice withered. Opposite a boy was washing tables,
opposite hope was gathering dust, almost Vienna, Theodor Herzl’s
coffee house mourning. At the counter, a man was drinking tequila,
five glasses, left the pub forever. A ballerina danced motionless
on the luggage rack of an electric bike. The world was vast
and did not reach to the horizon but reached to the stains,
dark bulges in the sky, aircraft carriers, sailing boats. That was
no longer a fairy tale. The spring hill stood as a wish track
behind palm branches, but once when I was tired in the rain,
it looked like thick smoke. I lay on the beach and no longer
knew my name. In front of me waves licked a Star of David,
next to it footprints, a dome of the rock with a cheese dome,
Cohen sang his broken hallelujah. It seemed to me that I had
dreamed this country. In this sand, everything could be drawn:
a new country, a paradise with missile defense system,
the last experiment in the tsunami hazard zone.
Section 9
Mysterien / Mysteries
Pistazien
In den Bergen das gefaltete Blau, Eiszeitgeröll.
Granatäpfel und Esel. Tatsächlich noch Esel,
als habe jemand die Zeit für Touristen geöffnet,
sie mit einem Fuß hindurchschlüpfen lassen
und auch mit dem zweiten. Sie wandern,
schwatzen, sammeln Beweise, dass es ein Paradies
tatsächlich gibt, obwohl doch niemand
Karten schreibt von dort. Ich bleibe zurück,
denke über die Rücken der Esel nach und
was sie wohl tragen, Reis, Orangen, Engel,
winzig, in Schalen verschlossen, die sich erst
wenn man sie mit dem Nagel aufbricht,
zu Flügeln breiten. Ich frage sie nach der Welt,
aber sie haben noch nicht davon gehört.
Teheran
Pistachios
In the blue folds of the mountains, ice-age rubble.
Pomegranates and donkeys. Actual donkeys,
as if someone had opened up time for tourists,
letting them slip through with one foot
and then with the second. They are hiking,
chattering, collecting evidence that there is an actual
paradise, although no one ever
writes postcards from there. I stay behind,
think about the backs of the donkeys and
what they might carry, rice, oranges, angels,
tiny, sealed in shells, who only
spread their wings if one breaks them open
with a nail. I ask them about the world
but they have not heard of it yet.
Tehran
Willkommen
Und alles ist schon einmal passiert: Irgendeine
Liebe wird fahrig zensiert, irgendein Taxifahrer
lässt den Motor laufen, bis der Himmel
vor Schmutz so schwer ist, dass er endlich
herabfällt. Die schwarzen Fahnen
wellen sich behäbig im Wind.
Irgendeine Uhr geht vor,
irgendeine Tasche liegt am Boden,
die Besitzerin ein paar Schritte entfernt,
Blut rinnt ihr die Schläfe hinab,
ein Wagen steht verlassen am Rand.
Irgendjemand raucht Opium,
irgendjemand hat Angst vor Spionen,
irgendjemand reisst die Satelittenschüsseln
viermal im Jahr von den Dächern,
irgendjemand bringt neue an,
und der Tod hat Sinn,
auf den Plakaten der Regierung,
die zwischen den Grabplatten
die Besucher willkommen heißen.
Irgendeine Uhr geht vor,
irgendeine Frau liegt am Boden,
ihre Tasche ein paar Meter entfernt,
am Straßenrand steht verlassen ein Wagen,
und hinter ihm räkeln sich aus dem Abgas
die Berge, knistern im Eis.
Teheran
Welcome
And everything has happened before: some
love is erratically censored, some taxi driver
leaves the engine running until the sky
is so heavy with dirt that it finally
falls down. The black flags
wave sluggishly in the wind.
Some clock runs fast,
some bag lies on the ground,
the owner a few steps away,
blood runs down her temples,
an abandoned car parks at the side of the road.
Someone smokes opium,
someone is afraid of spies,
someone tears down the satellite dishes
from the rooftops four times a year,
someone attaches new ones,
and death has meaning,
on the government billboards,
that welcome visitors
between the tombstones.
Some clock runs fast,
some woman lies on the ground
her bag a few feet away,
at the side of the road parks an abandoned car
and behind it from the exhaust the mountains
stretch out, crackle in the ice.
Tehran
Nora Bossong was born in Bremen, Germany in 1982. She writes poetry, novels, and essays, for which she has received several awards. The most recent being the Joseph Breitbach Prize and the Thomas Mann Prize in 2020, as well as the Elisabeth Langgässer Prize in 2024. Her novel, “Gramsci’s Fall”, was translated into English. Her sixth novel, “Reichskanzlerplatz”, will be published this autumn. Nora currently lives in Berlin.
Stefanie Eliron was born in Osterode, Germany in 1987. She obtained a bachelor’s degree in English Literature in 2023 and presently attends the master’s program in Literary Translation at Bar Ilan University. She works as a freelance translator, teaching assistant, and private English tutor. Stefanie currently lives with her husband and daughter in Israel.